Ihr Kulmbacher
 
 


Lange Jutta

Genau zur Mitte des letzten Jahrhunderts geboren. Ein Kulmbacher Gewächs, auch wenn ich zum Zwecke der Geburt ein paar Tage in Thurnau weilte.
Rund 45 Jahre lang gearbeitet; die eine Hälfte als Redakteurin bei einer hiesigen Lokalzeitung, die andere Hälfte als Leiterin eines Verlages, der Fachliteratur herausgab. Warum diese Berufswahl? Zeitung? Ich glaube, der Hauptgrund ist eine unstillbare Neugier. Immer wieder Neues erfahren. Den Sachen auf den Grund gehen. Das Geschichtenerfinden kam später hinzu. Möglicherweise eine Spätfolge meines Lieblingsschriftstellers in jungen Jahren: Stanislav Lem.
Eines meiner Lieblingshobbys: Organisieren. So entstanden beispielsweise vor rund 15 Jahren das Café Clatsch und die Sommerkunstwochen, die es nun bereits zum dreizehnten Mal in Kulmbach gibt.


Schicksalsroulette
oder „Die wahren Hintergründe, die uns diese Krise eingebrockt haben“

„Sie will waaas?“
Der Leiter der Abteilung „Vergnügungsfahrten zum Schicksalsroulette“ starrte den Boten fassungslos an.
„Sie will…“ entschuldigen Sie bitte - „Sie will…“ Erneut wurde er von einem heftigen Lachanfall geschüttelt. „Sie will ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen“, prustete er hervor.
„Ach ja, will sie das“, murmelte der Abteilungsleiter, kraulte seinen Bart, drehte sich dann langsam um und ließ den Blick über eine schier endlose Wand mit unendlich vielen Schubkästchen gleiten, auf denen in winzigen Buchstaben Namen geschrieben waren. An einem der Kästchen blieb sein Blick hängen. Er zog es heraus und entnahm ihm eine Karte, die wie eine EC-Karte aussah. Oder die eines Hotels, mit der man seine Zimmertür öffnen kann. Oder die eines Ladens, mit der man auf seinen Einkauf fünf Prozent Rabatt bekommt. Er übergab die Karte seinem Mitarbeiter, der mit hochrotem Kopf vor ihm stand, und noch immer versuchte, seinen Lachkrampf zu unterdrücken.
„Dann nimm du das mal in die Hand“, sagte er lächelnd.
Der Mitarbeiter strahlte ihn dankbar an, nahm das Kärtchen in Empfang und nestelte umständlich an seinem langen weißen Umhang, bis er die Tasche gefunden hatte, in der er das kostbare Stück sorgfältig verstaute.
„Beeil dich, der Bus fährt gleich ab.“
Der Mitarbeiter deutete eine Verbeugung an, dreht sich dann schnell um, ging nach draußen und bestieg das Fahrzeug, das mit laufendem Motor auf die letzten Fahrgäste wartete. Der große Luxusbus, lackiert in strahlendem Himmelblau, zeigte in großen weißen Lettern auf den Seitenwänden das Ziel der Fahrt an: Las Vegas on Cloud. Die Stimmung war bestens.
Damit nahm das Schicksal seinen Lauf – für Greta Bartoli und 49 andere, deren Namen auf Kärtchen standen.
Las Vegas on Cloud war ein Abziehbild seines irdischen Namensvetters. Eine Stadt, in der scheinbar nie einer schlief. Freilich waren die Gebäude nicht aus Stein oder Stahl. Es waren Wolkengebilde, aber mit allen Schikanen. Eines der beliebtesten Objekte: Ein Cumulo Nimbus, eine Gewitterwolke, die so hoch war, dass man ihr oberes Ende nicht mehr wahrnehmen konnte. Aufwinde im Inneren katapultierten die Vergnügungssüchtigen nach oben; nach unten ging es auf einer schier endlosen Wasserrutsche an der Seite des Gebäudes. Ein Wahnsinnsvergnügen!
Lange Schlangen gab es auch bei den Rodeo-Wolken, pferdeähnlichen Gebilden, die sich wie Wildpferde gebärdeten, wilde Sprünge veranstalteten und mit den Vorderhufen die Luft durchschnitten, um gleich anschließend mit den Hinterbeinen auszuschlagen. Wer sich da länger als eine Minute im Sattel halten konnte, wurde lautstark bejubelt.
Das absolute High light jedoch war die Spielhalle mit ihren mannigfaltigen Spielgeräten und –tischen. Einarmige Banditen und Roulette zählten zu den beliebtesten. Geld kannte man hier nicht. Man brauchte nur ein Kärtchen, das aussah wie eine EC-Karte. Über dem Eingangsportal verhieß ein großes Schild „Lustige Streiche geben dem Leben die Würze“. Daneben ein augenzwinkerndes Clownsgesicht. Es war wohl ironisch gemeint.
„Womit hast Du Dir die Fahrt verdient?“ E 2117 (das E stand für Engel) löffelte genüsslich sein Wolkeneis und schaute sein weibliches Gegenüber fragend an. Sie war als letzte in den Bus gesprungen, strahlend vor Glück, doch noch eine Karte für die „Vergnügungsfahrten zum Schicksalsroulette“ ergattert zu haben. Und nun war sie tatsächlich hier. Am Ziel ihrer Wünsche. In Las Vegas on Cloud, wo man an Automaten das Schicksal von Menschen in eine Achterbahn schicken konnte.
„Ich, äh, ach, so genau weiß ich das gar nicht; ich glaube, es war einfach noch ein Plätzchen frei. Oder mein Vorgesetzter wollte mir mal ein bisschen Entspannung zukommen lassen. Ich bin im Börsengeschäft tätig, musst Du wissen. Seit siebeneinhalb Jahren!“ Sie schüttelte ihre reizenden blonden Locken und machte dabei ein so verzweifeltes Gesicht, dass E 2117, der gerade einen vollgehäuften Eiscremelöffel zum Mund führen wollte, erschrocken innehielt und sie mit geöffnetem Mund anstarrte. „So schlimm?“
„Du kannst Dir nicht vorstellen, wie es ist, täglich auf diese Harakiri-Bande aufpassen zu müssen? Die sind an einem Tag himmelhochjauchzend und wollen die ganze Welt umarmen. Am nächsten Tag sind sie zu Tode betrübt, und du musst aufpassen, dass sie mit ihrem schnellen Wagen nicht gegen einen Baum rasen - und du hast keine Ahnung, warum!“ E 2117 nahm sie tröstend in den Arm. „Dann solltest Du das alles jetzt mal ganz schnell vergessen und Dich ein wenig ablenken. Komm, ich erklär Dir das System!“ Er führte sie an einen der einarmigen Banditen, auf dessen Frontseite in vielen bunten Bildern die Möglichkeiten abgebildet waren, die man mit einem kräftigen Drücken des seitlichen Hebels Realität werden lassen konnte. Die Bilder der linken Seite symbolisierten glückliche Momente. Allein die Farben, die strahlenden Gesichter, die Fülle und Reichtum aufzeigenden Bilder; bei ihrem Anblick hatte man ein wirklich gutes Gefühl. Anders beim Gegenüber.  Trübe Farben, Traurigkeit. Es war klar: wenn diese Bilder auftauchten, wäre mir wenig Gutem zu rechnen. Der blonde Engel nestelte an seinem Gewand herum und angelte ein Kärtchen heraus, auf dem ein Name stand. Demjenigen, der ihn trug, standen aufregende Zeiten bevor. Und er hatte keine Ahnung, warum. Sie lachte ihn strahlend an und wirkte schon viel lockerer als am Anfang, als sie sich begegnet waren. Sie schaute sich um und überlegte, was sie als erstes ausprobieren sollte. Und beim Umherschweifen wanderte ihr Blick durch eines der großen Fenster und verhakte sich auf der großen Hauswand auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Da leuchtete in grellen Neonfarben die provozierende Aufschrift: Das Schicksal des Einzelnen war gestern! Machen Sie mit beim MILLIONENCHAOS!
Sie ging zum Fenster, steckte die Karte wieder in die Tasche ihres Umhangs und sagte lächelnd: „Ich glaube, das will ich mal probieren…“

Jutta Lange











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